Unterabschnitte

Einleitung

Die Vorgangsweise der Theoretischen Physik

Da die (analytische) Mechanik die historisch erste der Disziplinen der theoretischen Physik ist, soll in dieser Einleitung der Zusammenhang zwischen Erfahrung, Mathematik und physikalischer Theorie allgemein erläutert werden. Dies in aller Kürze; eine ausführlichere Darstellung findet sich in [1].

Die Beziehung zwischen den drei Disziplinen Experimentalphysik, Theoretische Physik und Mathematik ist im Schema am Ende dieses Paragraphen erklärt. Die Experimentalphysik ist eine Erfahrungswissenschaft. Sie beobachtet die Phänomene in der Natur und befragt diese durch systematische Experimente. Dabei ermittelt sie empirische Gesetzmäßigkeiten. Zunächst werden physikalische Größen (z.B. Länge, Geschwindigkeit, Beschleunigung) definiert; und zwar durch Angabe der Manipulationen und Rechnungen, die in einem konkreten Fall ausgeführt werden sollen, um den Wert der betreffenden Größe zu erhalten (Operationelle Definition). Ist eine Anzahl von physikalischen Größen eingeführt worden (z.B. für den Erfahrungsbereich der Geometrie die Größen ''Länge'' und ''Winkel''), dann kann es sein, daß unter bestimmten Bedingungen stets eine gesetzmäßige Beziehung empirisches Gesetz zwischen den Maßzahlen gewisser Größen approximativ besteht, z.B. in der Geometrie in einem rechtwinkligen Dreieck besteht zwischen den anliegenden Seiten (= Katheten) $ a, b$ und der Hypothenuse $ c$ die Beziehung $ c^2  =  a^2  +  b^2$.

Die Mathematik ist eine Geisteswissenschaft. Ihr Werkzeug ist die Phantasie des Mathematikers, der spekulativ logische Strukturen ersinnt (z.B. das System der Zahlen und die euklidische Geometrie). Dabei läßt er sich oft von realen Erfahrungen und empirischen Zusammenhängen leiten (man denke an die Schaffung der Geometrie (= ''Erdmessung'') in Zusammenhang mit der Feldmeßkunst und an die Schaffung der Analysis beim Studium der Bewegungen von Teilchen). Im Prinzip werden die mathematischen Begriffe und die mathematischen Axiome (letztere geben Beziehungen zwischen Begriffen, die dadurch erst implizit definiert werden) willkürlich, wenn auch zweckmäßig und vor allem widerspruchsfrei, gesetzt. Durch logische Analyse und Deduktion (wobei die schöpferische Phantasie ebenfalls beteiligt ist) schafft der Mathematiker mathematische Theorien (= logische Strukturen = Zusammenhänge der mathematischen Begriffe).

Der theoretische Physiker sucht nun einen Zusammenhang (Abbildung) mathematischer Begriffe und Theorien mit den physikalischen Größen herzustellen, so daß die Zusammenhänge der empirischen Gesetze der physikalischen Größen in den Zusammenhängen (logischen Strukturen) der zugeordneten mathematischen Begriffe wiedergespiegelt werden. Bewährt sich solch eine Zuordnung, indem sie neue Aussagen oder Voraussagen über den Zusammenhang und den Ablauf der empirischen Größen gestattet, wird sie zur physikalischen Theorie. Die physikalischen Größen und der zugeordnete mathematische Begriff verschmelzen zum physikalischen Begriff. Die einfachen Grundannahmen über die Natur der Phänomene, die aus dem Erfahrungsmaterial abstrahiert worden sind, sind die physikalischen Axiome. Die physikalischen Gesetze können dann mittels der mathematischen Theorie aus den physikalischen Axiomen deduziert werden. Wenn eine Theorie in einem gewissen Bereich durch die Erfahrung bestätigt worden ist und auch die Grenzen ihrer Gültigkeit bekannt sind, innerhalb derer sie durch die Erfahrung bestätigt worden ist, außerhalb derer sie als unzutreffend widerlegt worden ist, dann spricht man von einer abgeschlossenen Theorie. Die analytische Mechanik ist eine solche, denn man weiß, sie gilt für die Beschreibung von Bewegungen, wenn die Massen und Längen nicht zu klein sind (dort gilt dann die Quantentheorie) und auch nicht zu groß sind (dann gilt die allgemeine Relativitätstheorie), die Geschwindigkeiten klein sind im Vergleich zur Vakuumlichtgeschwindigkeit $ c$ (andernfalls gilt die spezielle Relativitätstheorie).

Die analytische Mechanik verwendet vor allem die Begriffe der Lage, Geschwindigkeit, Beschleunigung und Kraft. Die zugehörigen physikalischen Axiome sind die Newtonschen Axiome. Die verwendete mathematische Theorie ist die der Systeme gewöhnlicher Differentialgleichungen zweiter Ordnung. Die physikalischen Gesetze deduziert man aus den Differentialgleichungen und sie beschreiben die Bewegungen und deren Gesetzmäßigkeiten.

Die vorstehende grundlagentheoretische Behandlung ist sehr naiv. Ein schon etwas tiefergehende und dennoch sehr lesbare Diskussion gibt Reichenbach [2]. Eine Kritik von Gedankengängen, wie sie oben dargelegt wurden, gibt Popper [3,4]. Es vertritt die These, daß überhaupt keine wissenschafliche Theorie verifiziert werden kann, sondern daß Theorien nur falsifiziert werden können.



Experimentalphysik   Theoretische Physik   Mathematik
Erfahrungswissenschaft   Naturwissenschaft   Geisteswissenschaft
Beobachtung       Phantasie
Experiment        
Abstraktion        
$ \vert $        
$ \vert $   Zuordnung = Abbildung    
$ \downarrow $   ----------------    
  $ \swarrow $ $ \downarrow $ $ \searrow $  
Physikalische Größe   Physikalischer Begriff   Mathematische Begriffe
(z.B. Länge)       (willkürlich definiert)
(Operationelle Definition)   $ \downarrow $    
    Physikalische Axiome   Axiome (Postulate)
Messungen liefern       (willürlich, aber wider-
Masszahlen   $ \vert $   spruchsfrei postuliert)
$ \vert $   $ \vert $   Analyse
$ \vert $   $ \vert $   Deduktion
$ \vert $   $ \vert $   Phantasie
$ \downarrow $   $ \downarrow $   $ \downarrow $
        Mathematische Theorie =
Empirische Gesetze $ \longleftrightarrow $ Physikalische Gesetze $ \longleftrightarrow $ Logische Stukturen
(Beziehungen zwischen       (Zusammenhänge der
Physikalischen Grössen)       mathematischen Begriffe)
(Z.B. Pythagoräischer Lehrsatz)        



Ziele der Mechanik

Das Ziel der Mechanik ist die Beschreibung der Bewegungen und Verformungen von Körpern. Diese Beschreibung soll so geartet sein, daß sie Vorhersagen über das Verhalten von Körpern ermöglicht. D.h., daß sie das Auffinden von Gesetzen zum Ziel hat, das sind Aussagen, die das Vorhandensein zeitlich unveränderlicher Eigenschaften mechanischer Vorgänge behaupten. Daß es solche Eigenschaften gibt, ist nicht selbstverständlich, es wird aber in der Mechanik gezeigt, daß im Rahmen der Beobachtungsgenauigkeit solche Eigenschaften vorhanden sind. Diese beziehen sich allerdings meist nicht auf unmittelbare Wahrnehmungen bezüglich der mechanischen Vorgänge, sondern auf durch Abstraktion gewonnene Merkmale derselben. Beispiele solcher unveränderlicher Eigenschaften sind die Erhaltung der Energie und des Drehimpulses.

Vorgangsweise der Mechanik

Die Beobachtungen mechanischer Vorgänge sind zunächst einmal Sinneswahrnehmungen. Da jedoch die Mechanik zeitlich und auch räumlich unveränderliche Gesetze auffinden will, also Eigenschaften von ganzen Klassen mechanischer Vorgänge, müssen die einzelnen Beobachtungen aufgezeichnet und verglichen werden können. Man muß also den Beobachtungen zu ihrer Beschreibung mitteilbare Größen zuordnen, wobei die Zuordnung so vereinbart werden muß, daß die Beschreibung jene Züge der Vorgänge eindeutig darstellt, die in der Mechanik zur Untersuchung und Kennzeichnung dieser Vorgänge verwendet werden. Man nimmt für die Beschreibung insbesondere mathematische Begriffe, die sich für eine mitteilsame Beschreibung besonders gut eignen, da sie nur jene Merkmale haben, die ihnen ihre aus einem oder einigen wenigen (sprachlichen) Sätzen bestehende Definition (= Festsetzung) zuweist, vermehrt um jene, die noch in den mathematischen Sätzen behauptet werden, in denen diese Begriffe vorkommen. Dadurch haben die zur Beschreibung verwendeten Begriffe einen einfachen und eindeutigen Aufbau.

Für eine geeignete Beschreibung ist dann noch eine eindeutige Zuordnungsvorschrift notwendig, durch die die Abbildung der beobachtbaren Vorgänge auf die für die Beschreibung vorgesehene Begriffsklassen erfolgt. Dies ist weniger einfach zu erreichen als die Einführung klarer abstrakter Begriffe an sich, da Sinneswahrnehmungen einen viel verwickelteren Aufbau haben als mathematische Begriffe, sich nicht durch wenige Merkmale erschöpfend beschreiben lassen und eine Zuordnung zu den nicht scharf erfahrbaren Merkmalen der Wahrnehmungen schwierig ist. Daher bedeutet der Übergang zu einer Beschreibung der erwähnten Art immer eine Vereinfachung und Vernachlässigung, die sich nicht umgehen läßt. Denn eine für andere bestimmte Mitteilung kann naturgemäß nur Inhalte haben, die für alle Empfänger dieser Mitteilung gleichermaßen verständlich sind, also durch eine Abstraktion von persönlich empfundenen Inhalt der Wahrnehmung erhalten werden.

Mittel der Beschreibung für mechanische Ereignisse

Da die Mechanik die Bewegungen und Verformungen von Körpern untersucht, muß die erwähnte Beschreibung vor allem in der Lage sein, Ereignisse zu erfassen, die an verschiedenen Punkten des Raumes zu verschiedenen Zeiten vor sich gehen. Als mathematisches Modell zur Beschreibung des Raumes wird eine Geometrie verwendet, und zwar in der klassischen Mechanik die euklidische. Da die euklidische Geometrie eine Struktur zum Gegenstand hat, deren Elemente Punkte, Geraden und Ebenen sind mit ihren Beziehungen untereinander (Enthaltensein, Schneiden, Senkrechtstehen, usw.), muß man eine Zuordnung dieser abstrakten Begriffe zu wirklichen Dingen und ihrer abstrakten Beziehungen zu wirklichen Beziehungen dieser Dinge herstellen, so daß diese wirklichen Dinge innerhalb der durch die Wahrnehmung begrenzten Genauigkeit die Struktur der euklidischen Geometrie widerspiegeln. Insbesondere werden als Geraden die Wege von Lichtstrahlen definiert und Punkte und Ebenen durch einander schneidende Geraden. Dann werden die Punkte des Raumes mit Hilfe eines Koordinatensystems in bekannter Weise geordneten Tripeln reeller Zahlen zugeordnet. (Man beachte die hiebei gemachten Vernachlässigungen: Es gibt keine wirklichen Dinge, die die Eigenschaften der durch die Zahlentripel beschriebenen Punkte des Raumes haben.)

Um nun auch die Zeitordnungsereignisse durch Zahlen beschreiben zu können, geht man auf folgende Weise vor: Man baut sich ein Gerät, das eine Aufeinanderfolge (geordnete Menge) von Ereignissen liefert, denen man die reellen Zahlen zuordnen kann. Dieses Gerät, versehen mit einer Vorrichtung, die die den Ereignissen zugeordnete reelle Zahl, die Zeit, anzeigt, heißt Uhr. Um die Zeit eines beobachtbaren Ereignisses festzulegen, bringt man die Uhr oder eine gleichartige, synchronisierte (d.h. eine, die die gleiche Zeit anzeigt), an den Ort des Ereignisses und liest zum Zeitpunkt des Ereignisses die von der Uhr angezeigte Zeit ab. (Hiebei wird der Begriff der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse am gleichen Ort als unmittelbar sinnlich gegeben und bekannt vorausgesetzt.)

Durch diese Vorgangsweise sind also jedem Ereignis, das an einem bestimmten Punkt des Raumes zu einer bestimmten Zeit stattfindet, drei Raum- und eine Zeitkoordinate zur raumzeitlichen Beschreibung zugeordnet.







Literatur

  1. A. Einstein, L. Infeld: Die Evolution der Physik. Hamburg 1956, Rowohlt Verlag, rororo 12. Anhang Enzyklopädisches Stichwort.
  2. H. Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosphie. Vieweg 1977.
  3. K. Popper: Evolutionary Epistomology, in C. Tarozzi, A. van der Merwe (Eds.): Open questions in Quantum Physics. D. Reidel Publ. Comp. 1985, SS 395 - 413.
  4. La Recherche: No.96 (Janvier 1979), S.50 .
    La Recherche: No.113 (Jouillet/Août 1980), S. 864-867.

Christian Sommer 2003-01-27