Die Kinematik (E.: kinematics) beschäftigt sich mit der Beschreibung der Bewegung eines Massenpunktes (E.: mass point, point particle). Es wird dabei nur der Bewegungsvorgang beschrieben, ohne nach dessen Ursachen zu fragen. Das führt zu den Begriffen Lage, Geschwindigkeit und Beschleunigung eines Massenpunktes; die Beschleunigung kann in natürlicher Weise in zwei Komponenten zerlegt werden, in die Tangential- und die Normalbeschleunigung. Zu dieser Beschreibung des Bewegungsvorganges werden Begriffe der Differentialgeometrie (Kurventheorie) benötigt: Die Bogenlänge, der Tangential- und der Normalvektor; die Krümmung bzw. der Krümmungsradius. Diese Begriffe werden im 2.Paragraphen erklärt.
Im Laufe der Bewegung beschreibt der Massenpunkt eine Bahn (E.: trajectory) (Abb. 2.1). Zu deren Beschreibung führt man ein Koordinatensystem ein.
(21) |
Die Erfahrung zeigt, die sind drei stetige Funktionen der Zeit (Vektorfunktion).
(22) |
Die Erfahrung zeigt, die sind stetige Funktionen der Zeit. Man kann also zu jedem Zeitpunkt die Lage und die Geschwindigkeit eines Massenpunktes angeben. Der Absolutbetrag der Geschwindigkeit ist
ist das Differential der Bogenlänge (s. §2.2):
(24) |
Formel (2.3) kann physikalisch interpretiert werden: Der Betrag der Geschwindigkeit ist die Länge des durchlaufenen Bahnstückes dividiert durch das Zeitintervall , das benötigt wurde, es zu durchlaufen.
Die Beschleunigung (E.: acceleration) erhält man wieder durch Grenzübergang, wenn man zwei nahe beieinanderliegende Punkte und deren Geschwindigkeiten betrachtet (Abb. 2.2).
(25) |
Die Erfahrung zeigt, die sind stückweise stetige Funktionen der Zeit. Z.B. gibt es eine Unstetigkeit der Beschleunigung, wenn ein Punkt mit konstantem Betrag der Geschwindigkeit auf einer Kurve fährt, die aus einem Kreisbogenstück besteht, an das sich beiderseits je ein gerades Wegstück mit stetigem Übergang der Tangenten anschließen. (s.Ü. 1 zu Kap. 2)
Die vorhergehenden Betrachtungen zusammenfassend, kann man sagen: Die sind stückweise zweimal stetig differenzierbare Funktionen. Man könnte noch höhere Ableitungen definieren; doch werden diese im allgemeinen nicht benötigt.
Die Beschleunigung kann in zwei Komponenten zerlegt werden, eine in Richtung
der Geschwindigkeit (Tangentialbeschleunigung), die andere normal zur
Geschwindigkeit (Normalbeschleunigung) (Abb. 2.3).
bzw. sind die in §2.2 eingeführten Einheitsvektoren in Tangential- bzw. Normalrichtung (s. Abb. 2.3). ist der Radius des Krümmungskreises. Die Formeln (2.6) bis (2.8) werden nachfolgend gleich abgeleitet. In dieser Ableitung drückt sich die Tatsache aus, daß eine Bewegung einen geometrischen Anteil (die Gestalt der Bahnkurve) und einen zeitlichen Ablauf (auf dieser Bahnkurve) enthält. Durch Differentiation nach der Kettenregel erhält man:
(29) |
(210) |
Bsp. 2.1: Beliebig beschleunigte Bewegung auf einer Geraden (Abb. 2.4(a)):
(211) |
Bsp. 2.2: Ein Punkt bewegt sich mit konstanter Winkelgeschwindigkeit
auf einem Kreis vom Radius a (Abb. 2.4(b)).
Zeige, daß
.
Für die zweite Ableitung des Ortsvektors nach der Bogenlänge ergibt sich durch öftere Anwendung der Kettenregel:
Bei der Diskussion der Eigenschaften der Bahn eines Massenpunktes werden zwei Gruppen von Eigenschaften unterschieden. Die einen hängen mit der geometrischen Gestalt der Bahnkurve zusammen; die anderen betreffen den Ablauf der Bewegung auf dieser Bahnkurve. Die Theorie zur Beschreibung der geometrischen Eigenschaften der Bahnkurve ist die Differentialgeometrie. Einige Begriffe derselben sollen in diesem Paragraphen vorgeführt werden.
Die Bogenlänge (E.: arclength) benötigt man zur Bestimmung der Länge eines
Kurvenstücks. Die zweckmäßigste Form der Darstellung einer
Kurve erfolgt in Parameterform:
(215) |
Ein Beispiel einer solchen Raumkurve ist die Schraubenlinie (E.: screw, helix)
(216) |
(217) |
mit |
Dabei muß vorausgesetzt werden, daß die Kurve ''genügend glatt'' ist, sodaß dieser Grenzübergang zulässig und sinnvoll ist. Z.B. kann vorausgesetzt werden, daß die auftretenden ersten Ableitungen existieren und in den betrachteten Bereichen fast überall stetig sind. Gegenbeispiele, wo dieser Grenzübergang nicht möglich ist, sind die Fraktale.
Die Bogenlänge ist gemäß (2.18) das Integral:
(219) |
Ein Beispiel ist die Bestimmung der Länge eines Kreisbogens (Abb. 2.5(b)):
1) Die 2. Ableitung steht senkrecht auf der ersten (= dem
Tangenteneinheitsvektor)
2) Die zweite Ableitung
ist Null genau dann, wenn die
Kurve eine Gerade ist:
a) Die Kurve ist nach Voraussetzung eine Gerade:
const. |
b) Umgekehrt folgt aus dem Verschwinden der 2. Ableitung:
In Gl. (2.14) wird bewiesen, daß beim Umlauf eines Punktes auf einer Kreisbahn vom Radius gilt: .
Die Überlegungen am Ende des vorhergehenden Paragraphen legen nahe, den Absolutbetrag dieser 2. Ableitung als Maß für die Krümmung (E.: curvature) einer Kurve zu wählen und zu definieren:
Die obige Formel (2.22) für die Krümmung läßt sich auch noch eine übersichtlichere Form bringen. Dazu wird in Gl. (2.13) eingesetzt. Um den Schreibaufwand zu verringeren, werden folgende Abkürzungen verwendet Punkte bedeuten Ableitungen nach dem Parameter , Striche Ableitungen nach der Bogenlänge :
(224) |
(225) |
(226) |
Literatur zu §2.2:
I.N. Bronstein, K.A. Semendjajew: Taschenbuch der Mathematik, Teil III Analytische Geometrie
und Differentialgeometrie, II Differentialgeometrie.
Christian Sommer 2003-01-27