Unterabschnitte
Anhang über Variationsrechnung
In diesem Anhang werden die Problemstellung und die Lösungsmethoden der
Variationsrechnung kurz erläutert und mit denen der gewöhnlichen
Maximum-Minimum-Rechnung verglichen.
Maximum-Minimum-Rechnung
Gegeben ist eine Funktion
gegeben.
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Variationsrechnung
Gegeben ist ein bestimmtes Integral
gegeben,
worin
als Funktion seiner Argumente
bekannt ist.
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Gesucht ist ein Wert , für den einen Extremwert annimmt.
Extr.
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Gesucht ist eine Funktion , die in das obige Integral eingesetzt,
diesem einen extremen Wert verleiht:
Extr. |
(121) |
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Lösungsvorschift: Die Werte suchen,
für die die erste Ableitung der Funktion Null ist:
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Lösungsvorschift: Die erste Variation des Integrals muß Null sein:
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(122) |
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Wie unten gezeigt wird, ist das der Fall, wenn die Funktion Lösung der
Eulerschen Differentialgleichung des Variationsproblems ist:
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(123) |
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Die Problemstellung der Variationsrechnung soll zunächst am Beispiel
der Brachystochrone (Abb. A.2(b)) erläutert werden: Ein Teilchen
bewegt sich in einer vertikalen Ebene auf einer vorgeschriebenen Kurve unter
dem Einfluß der Schwerkraft. Welche Kurve muß man wählen, damit die Laufzeit
vom gegebenen Anfangspunkt zum gegebenen Endpunkt ,
möglichst kurz ist?
Dazu wird der Energiesatz für ein Teilchen der Masse
im Schwerefeld nach der Geschwindigkeit aufgelöst
Die Bahnkurve soll so gewählt werden, daß die Laufzeit ein Extremum ist:
Extr. |
(124) |
Die Methode zur Lösung des Variationsproblems (A.1) besteht darin, daß das
Variationsproblem auf ein gewöhnliches Maximum-Minimum-Problem zurückgeführt
wird. Dazu wird angenommen, daß die Lösung die dem Integral in
Gl. (A.1) einen extremalen Wert verleiht, schon bekannt ist. Der mit der
Lösung berechnete Wert des Integrals (A.1), nämlich
wird verglichen mit den Werten, die man erhält, wenn man in das Integral (A.1)
die folgenden Vergleichsfunktionen
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(125) |
einsetzt. Diese sollen in der Nähe von liegen
(daher
!) und
durch denselben Anfangs- und Endpunkt gehen wie die Lösung
(vgl. Abb. A.1), d.h.
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(126) |
Abbildung:
Die Lösung -- und
zwei Vergleichsfunktionen
.
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Einsetzen der Vergleichsfunktionen in das Integral (A.1) gibt:
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(127) |
Es ist klar, daß
ist. Weil die Lösung des
Variationsproblems ist, also dem Integral (A.1) den extremalen Wert verleiht, muß
aber auch gelten:
Durch diese Vorgangsweise mit dem Ansatz (A.5) und dessen Einsetzen in (A.1)
ist das Variationsproblem in ein
gewöhnliches Extremalproblem bezüglich des Parameters
transformiert worden. Dies wird nun weiter im Integral (A.7) ausgeführt:
Für
folgt daraus gemäß (A.4)
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(128) |
Im zweiten Integral wird die Zeitableitung
durch partielle Integration überwälzt:
Wegen (A.5) ist der integrierte Anteil Null. Durch Einsetzen der gerade
berechneten Relation in das Integral (A.8) wird dieses auf folgende Form
gebracht:
Die Funktion ist in hohem Maße willkürlich.
Deswegen kann das vorstehende Integral nur dann Null sein, wenn der Ausdruck
in der Klammer Null ist. Dies gibt die Eulersche Differentialgleichung
des Variationsproblems (A.1):
Deren Lösung ist die gesuchte Funktion, die dem Integral (A.1) seinen extremalen
Wert verleiht.
In dem wichtigen Spezialfall, daß die Funktion
nicht
explizit von der unabhängigen Variablen abhängt, ist folgende einfachere
Bedingung, das Jacobiintegral, der Eulerschen Differentialgleichung äquivalent:
const. |
(129) |
Aus
und aus Gl. (A.3) folgt nämlich
Diese Resultate werden nun zur Lösung des Beispiels, Gl. (A.4), verwendet. Zur
Anfangsbedingung
gehört , sodaß wir schreiben können
Es ist sehr langwierig, zu diesem Variationsproblem die Eulersche
Differentialgleichung (A.3) aufzustellen und zu lösen. Da nicht
explizit von , der unabhängigen Variablen, abhängt, kann Formel
(A.9) verwendet werden, was wesentlich
günstiger ist. Diese lautet hier:
Diese Differentialgleichung kann durch Separation der Variablen gelöst werden
Das Integral wird mittels der nachfolgenden Substitution für ausgewertet.
Damit folgt dann aus der obigen Gleichung auch ein Ausdruck für .
Diese Lösung ist eine Parameterdarstellung einer gewöhnlichen Zykloide
(s. Gl. (6.11)). Die noch unbestimmten Konstanten ( , ,
, ) werden durch den vorgeschriebenen Anfangspunkt
und Endpunkt
festgelegt. und legen den Bereich des Parameters fest,
.
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(1212) |
Division der vorletzten Gleichung durch die letzte gibt nach Umordnen
Diese Gleichung wird durch Einführung von Hilfsvariablen
und umgeformt.
wird durch die obige Definition festgelegt. Die letzte Gleichung ist eine
transzendente Gleichung in , das seinerseits das gesuchte gibt. Die Lösungen
, , , ... sind die Schnittpunkte der Geraden
mit der Sinuskurve
, (s. Abb. A.2):
gibt den Anfangspunkt. Die übrigen Wurzeln
(für
endlich viele)
geben zum Endpunkt passende Parametergrenzen
.
Aus folgt dann
gemäß der letzten Gl. (A.12). Damit und mit (A.10),
(A.11) ist die Brachystrochrone (A.4) vollständig bestimmt.
Aus Abb. A.2(a)) ersieht man: Für
gibt es neben
nur eine Wurzel , (
);
für 1.3518 ...
gibt es , , ,
(
,
). Die zu ,
gehörigen Zykloiden (s. Abb. A.2(b)) haben längere Laufzeiten als die zu
gehörige. Sie sind wegen der Reibung praktisch nicht realisierbar.
Abbildung:
Links: a) Die Lösungen
für einen
bestimmten Wert von sind die Schnittpunkte der zu diesem
gehörigen Geraden mit .
Rechts: b) Zu jedem Wert
gehört eine Brachystochrone.
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Die oben gebrachte Variationsrechnung läßt sich für den Fall von
abhängigen Variablen verallgemeinern: Gesucht sind die Funktionen
, sodaß das Integral
Extr. |
(1213) |
ein Extrem wird, wobei eine bekannte Funktion der Argumente ist.
Dies bedeutet also
Eine Schlußweise ganz wie die im Falle einer unbekannten abhängigen Variablen führt zu dem
System von Eulerschen Gleichungen
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(1214) |
Es wird dazu angenommen, die seien die gesuchten Funktionen, die
dem Integral seinen extremen Wert verleihen. Setzt man die Vergleichsfunktionen
die durch den gleichen Anfangs- und Endpunkt gehen sollen wie die Lösungen, d.h.
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(1215) |
in das Integral (A.13) ein, dann ist das Variationsproblem wieder auf ein
gewöhnliches Extremalproblem für das folgende Integral zurückgeführt:
Die Ableitung des Integrals ist partiell integriert worden.
Der integrierte Term ist wegen Bedingung (A.15) Null. Wegen der Willkürlichkeit
und der Unabhängigkeit der muß jede geschweifte Klammer für sich
Null sein. Das gibt die oben bereits angeführten Eulerschen
Gleichungen (A.14).
Als letztes behandeln wir Variationsprobleme mit Nebenbedingungen. In der
gewöhnlichen Maximum-Minimum-Rechnung sollen die Argumente
aufgesucht werden, die der Funktion
einen
extremen Wert verleihen. Dabei sind diese Argumente durch Nebenbedingungen
eingeschränkt.
Die Lösungsvorschrift ist (ohne Beweis): Mittels Lagrangescher
Multiplikatoren
bilde man die Funktion
und suche deren Extrema gemäß
Der zweite Satz von Bedingungen sind gerade die Nebenbedingungen, die in
formaler Weise ebenfalls als Ableitungen ausgedrückt worden sind. Aus den obigen
Gleichungen können die Unbekannten
bestimmt werden.
Das analoge Problem der Variationsrechnung ist wieder: die Funktionen
zu finden, so daß
Diese Funktionen, , werden durch die Nebenbedingungen
eingeschränkt. Kommen in den
keine Ableitungen vor, heißen
die Nebenbedingungen holonom,
sonst anholonom. Die Lösungsvorschrift ist in beiden Fällen die
gleiche: Man bilde die Funktion
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(1218) |
Die gesuchten Funktionen und die Lagrangeschen Multiplikatoren
sind die Lösungen der Eulerschen
Differentialgleichungen
Daher kann man das Variationsproblem (A.16) und
(A.17) auch schreiben als
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(1219) |
Die strenge mathematische Behandlung der Variationsrechnung ist ungleich
schwieriger als die der gewöhnlichen Maximum-Minimum-Rechnung. Insbesondere
ist die
Existenz von stationären Werten der Integrale (dieser Begriff ist allgemeiner
und zutreffender als der des Extremums) nicht immer gesichert. Auch der Beweis
der Methode der Lagrangeschen Multiplikatoren ist sehr kompliziert. Auf diese
Schwierigkeiten kann hier nicht eingegangen werden.
Literatur zur Variationsrechnung
O. Bolza: Vorlesung über Variationsrechnung, B.G.Teubner, Leipzig,1909
Christian Sommer
2003-01-27